Die Promotion als Reise? – Buchrezension „Destination Dissertation“
Eine Rezension von Christine Heinen zum Buch: Foss, Sonja; Waters, William (2015) „Destination Dissertation – A Traveler’s Guide to a Done Dissertation. Rowman & Littlefield Publishers
Sonja K. Foss und William Waters zeichnen in Ihrem Buch „Destination Dissertation – A Traveler’s Guide to a Done Dissertation“ das schöne Bild von der Dissertation als Reise. Es geht nicht nur darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern auch darum, unterwegs aufregende Dinge zu erleben und Neues zu lernen. Ich habe mir angeschaut, inwieweit dieses englischsprachige Buch für Promovierende im deutschsprachigen Raum interessant sein kann.
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Das Inhaltsverzeichnis ist ähnlich aufgebaut wie das eines Reiseführers („Developing your Itinerary“, „Advice from Other Travelers“, …). Im ersten Kapitel geht es um die Vorbereitung des Trips, also z. B. darum, was man alles einpacken soll (Freude, Kompetenz, Unterstützung…), damit die Reise erfolgreich wird und Spaß macht.
Die einzelnen kleinen Schritte der Dissertation
Im zweiten Kapitel wird die bevorstehende Reise in einzelne Schritte unterteilt. Aus Sicht der Autor_innen sind es genau 29 (!) festgelegte Schritte mit jeweils recht genau angegebener Zeitdauer. Für die wenigsten Dissertationen im deutschsprachigen Raum werden diese Schritte genauso zutreffen. Dennoch finde ich die Idee wichtig, die gesamte Dissertation nicht als einen einzigen riesigen (und potenziell unbezwingbaren) Berg zu sehen, sondern sich die einzelnen kleinen Stationen vor Augen zu führen. Ich denke es macht durchaus Sinn, mal für die eigene Dissertation zu überlegen, welche Schritte das sind und wie lange diese ungefähr dauern könnten.
Die Autor_innen berechnen dann anhand der für die einzelnen Schritte veranschlagten Stunden, dass man eine qualitative hochwertige Dissertation in 6-7 Monaten (!) schaffen kann, wenn man in Vollzeit daran arbeitet (ca. 1 Jahr in Teilzeit). In der Humanmedizin soll das ja durchaus üblich sein. In anderen Fachbereichen gelten dagegen 2 Jahre im deutschsprachigen Raum schon als schnell. Foss und Waters schreiben aber, dass schon viele Promovierende, die nach ihrem Schema vorgegangen sind, die Dissertation in einer so kurzen Zeit fertiggestellt haben. Einen Versuch ist es also vielleicht wert.
Die großen Stationen der Reise
In diesen Kapiteln geht es um die größeren Meilensteine der Dissertation (die im deutschsprachigen Kontext abweichen können).
Im dritten Kapitel geht es zunächst darum, mittels Conceptual Conversation das Thema festzulegen. Diese Art der Gesprächsführung soll dabei unterstützen, erstmal Ideen und relevante Aspekte zu sammeln. Gesprächspartner_in kann die Betreuung oder auch jemand anderes sein. Diese Person stellt dann während des Gesprächs nur Fragen und macht Notizen. Anschließend strukturierst Du die Notizen und entscheidest, welche Punkte Dir am wichtigsten sind.
Im vierten Kapitel geht es anschließend darum, Fragestellung und Methodik festzulegen und ein sogenanntes Preproposal (vielleicht eine Art vorläufiges Exposé) zu schreiben. In dem Kapitel finden sich viele Beispiele für gute Forschungsfragen und Preproposals.
Im fünften Kapitel geht es um das Literaturreview, das in seiner formalen Form (mit Kodierung der Literatur) im deutschsprachigen Raum ja kein zwingender Bestandteil jeder Dissertation ist. Hier wird eine genaue Vorgehensweise hinsichtlich der Kodierung vorgestellt (diese Vorgehensweise taucht später wieder auf, wenn es um die Auswertung der Daten geht), die vielleicht so nicht für alle passt. Hilfreich sind aber sicherlich die Textbeispiele am Ende des Kapitels. Gut finde ich auch den Vorschlag, zuerst das Thema zu konzeptualisieren (Kap. 4) und dann erst das Literaturreview zu schreiben. Wenn man erst Unmengen an Literatur liest, um auf Basis der Literatur das Thema einzugrenzen, kann man sich auch verzetteln und liest vielleicht auch weniger gezielt. Einige Tipps für das Lesen während der Promotion findest Du übrigens auch im Blog-Beitrag Besser Lesen in der Promotion.
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Im sechsten Kapitel geht es um das Schreiben des Proposals (tendenziell etwas ausführlicher als das üblicherweise im deutschsprachigen Raum geforderte Exposé). Auch wenn die vorgegebene Kapitelreihenfolge sicherlich nicht für alle Dissertationen passt, sind die anschließenden Textbeispiele sicherlich einen Blick wert.
Im siebten Kapitel steht die Datensammlung und Auswertung im Fokus. Hier ist der Prozess wieder recht genau vorgegeben. Wenn Du theoretisch oder quantitativ arbeitest, kannst Du dieses Kapitel überspringen. Auch wenn Du qualitativ arbeitest, kann es sein, dass die beschriebene Vorgehensweise nicht zu Deiner spezifischen Methodik passt. Falls es passt, findest du eine genaue Schritt-für-Schritt-Anleitung und Textbeispiele.
Im achten Kapitel geht es um das Schreiben des Diskussionsteils. Hier passen die Vorgaben wahrscheinlich für die meisten Dissertationen zumindest weitgehend und es gibt wieder einige Textbeispiele.
Das Herzstück – Anleitung zum Schreiben während der Dissertation
Im neunten Kapitel gibt es einen großen Fundus an Tipps für den Schreibprozess. Hier ist bestimmt auch für Dich etwas dabei. Dieser Teil hat mir am besten gefallen. Es wird stark herausgestellt, dass man sich beim ersten Schreiben nicht viel Mühe geben soll, den Text irgendwie schön zu machen. Stattdessen sollst Du erstmal eine geradezu „hingerotzte“ Rohversion runterschreiben und anschließend viel Zeit für die Überarbeitung einplanen.
Die einzelnen Überarbeitungsschritte werden dann recht kleinteilig aufgedröselt: Man startet mit der Überarbeitung der Struktur und erst ganz zum Schluss geht es um treffende und schöne Formulierungen. Es kann bei der Überarbeitung immer passieren, dass Textteile gelöscht, neu geschrieben oder verschoben werden. Da wäre es einfach nicht effizient, vorher viel Zeit auf sprachliche Überarbeitung zu verwenden. Zwar wird in diesem Kapitel auch wieder ein angeblich für alle passendes Konzept vorgestellt, aber man kann viele sinnvolle Anregungen finden, die eigene Arbeitsweise zu überdenken und den Schreib- und Überarbeitungsprozess stärker zu strukturieren.
Im 10. Kapitel geht es um die Verteidigung der Dissertation. Der Ablauf wird sich für die meisten Promovierenden im deutschsprachigen Raum etwas unterscheiden. Dennoch sind auch hier viele hilfreiche Tipps dabei. Im elften Kapitel geht es um die Kommunikation mit der Betreuung und im ersten Abschnitt auch um die Auswahl einer passenden Betreuung. Auch hier kann man sich die Ratschläge rauspicken, die für die eigene Situation passend sind.
Rollenanforderungen im Promotionsprozess
Im zwölften und letzten Kapitel geht es darum, Verzögerungen zu vermeiden sowie um unterschiedliche Rollen während der Promotion. Einige (implizite) Aussagen dieses Kapitels empfinde ich ehrlich gesagt als Zumutung: Es wird im Grunde nicht anerkannt, dass während der Promotionsphase meist unterschiedliche Rollen nebeneinander existieren. Die Autor_innen sehen es nicht als zielführend an, sich während der Promotion auch um andere wichtige Lebensbereiche wie z. B. um den Lebensunterhalt zu kümmern. Statt sich mit mehreren Nebenjobs durchzuschlagen oder sich um ein Stipendium zu bemühen, soll man lieber die Dissertation fertig schreiben. Wovon man dann in der Zwischenzeit leben soll, wird nicht thematisiert. Auch Promovierende, die Kinder haben, Angehörige pflegen oder selbst krank sind, werden nicht berücksichtigt. Sogar von der Teilnahme an Workshops und Unterstützungsgruppen wird abgeraten, da man in dieser Zeit besser die Dissertation fertigstellen soll.
Natürlich muss man sich überlegen, wie man neben vielen anderen Dingen im Leben noch regelmäßig Zeit für die Dissertation findet. Sich in Vollzeit der Dissertation zu widmen und alle anderen Lebensbereiche zu vernachlässigen, wird aber für die wenigsten Promovierenden die Lösung sein (und wenn, dann nur für kurze Zeit in der Schlussphase). Zumal ja nach Einreichung der Dissertation nicht automatisch der gute bezahlte Traumjob wartet. Da kann es durchaus nützlich sein, wenn man auch während der Promotion relevante Arbeitserfahrung gesammelt, Projektanträge geschrieben oder die Familienplanung auf einen guten Weg gebracht hat. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Rollenanforderungen halte ich für sehr wichtig. Dass hier (von vielen möglichen)nur ein einziger Weg aufgezeigt wird, finde ich echt schade.
Im weiteren Verlauf des Kapitels geht es noch um das regelmäßige Schreiben. Ein wichtiger Punkt, zu dem das Buch auch einige hilfreiche Hinweise gibt. Dennoch finde ich auch hier den Fokus auf ganze Tage, die nur der Dissertation gehören, zu stark. Es ist toll, wenn das mal (oder auch regelmäßig) möglich ist. Viel wichtiger erscheint es mir aber, kürzere Schreibeinheiten in den normalen Alltag einzubauen. Darauf wird leider kaum eingegangen.
Lohnt es sich, das Buch zu lesen?
Etwas irritierend für deutschsprachige Lesende ist, dass das Buch nur die Abläufe an US-amerikanischen Universitäten berücksichtigt (Promotion an Graduate Schools, Advisor und Committee statt der in Deutschland üblichen Doppelrolle Betreuung/Begutachtung). So manche Abkürzung wie ABD („all but dissertation“ – die letzte Phase von Studierenden an US-amerikanischen graduate schools) muss man dann auch erstmal nachschlagen.
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Die Autor_innen betonen recht stark, dass man die Dissertation in sehr kurzer Zeit schaffen kann und geben für die einzelnen Schritte der Reise sehr konkret vor, wie diese aus ihrer Sicht am besten zu bewältigen ist. Die genannten Strategien sind bestimmt auch für viele Promovierende hilfreich. Es werden jedoch keine möglichen Nachteile oder Alternativen diskutiert. Das erinnert etwas an das Konzept der Pauschalreise oder „One size fits all“. Es könnte ja durchaus sein, dass jemand an bestimmten Stationen länger verweilen möchte, noch einen Abstecher machen will, spontan die Richtung ändert oder statt im Hotel lieber im Zelt oder im Hostel schlafen möchte (oder muss).
Dass die Situation oder auch das Ziel individuell unterschiedlich sein kann, wird kaum berücksichtigt oder sogar als Ausrede abgetan. Das fand ich etwas befremdlich, da es bei einer Reise ja in der Regel nicht nur darum geht, die Pflichtstationen abzuklappern und möglichst schnell wieder zu Hause zu sein. Aus der Reisemetapher hätte man also durchaus mehr rausholen können.
Das Buch ist für Dich, wenn…
- Du in den USA promovierst oder auch ein Forschungssemester dort verbringen willst.
- Du möglichst schnell fertig werden willst.
- Du die Möglichkeit hast, Dich in Vollzeit Deiner Diss zu widmen oder zumindest wöchentlich ganze Tage dafür zur Verfügung hast.
- Du qualitativ forschst (und die Auswertungsmethode noch nicht im Detail feststeht)
- es Dich nicht stört, dass vieles in dem Buch nicht zu Deiner Situation oder Deinen Zielen passt und Du das Buch einfach als Fundus für unzählige gute Tipps und Textbeispiele siehst, aus dem Du Dir die Rosinen rauspickst. Dafür lohnt es sich aus meiner Sicht durchaus, das Buch zu lesen – vielleicht besonders, wenn Du eher am Anfang Deiner Reise stehst und entsprechend mehr Ratschläge nutzen kannst.
Und ganz unabhängig davon, ob du das Buch nutzen möchtest:
Überlege mal in Bezug auf Deine Promotion, welche einzelnen kleinen Schritte noch vor dir liegen und was dir dabei helfen kann, die nächsten Schritte zu gehen.
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Die Autorin des Blogbeitrags, Christine Heinen, ist Trainerin im Team von Coachingzonen-Wissenschaft und betreut den Online-Coaching-Kurs „Projekt-Promotion“. Sie coacht Studierende und blogt auf christineheinen.com zum Thema Abschlussarbeit. Sie promoviert an der FernUniversität in Hagen am Lehrgebiet Community Psychology zur Verwendung von gender-inklusiven Schreibweisen.